S. Wenzel: Lieder, Lärmen, ›L’homme armé‹

Cover
Titel
Lieder, Lärmen, ›L’homme armé‹. Musik und Krieg 1460–1600


Autor(en)
Wenzel, Silke
Reihe
Musik der frühen Neuzeit 4
Erschienen
Neumünster 2017: von Bockel Verlag
Anzahl Seiten
422 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Margret Scharrer, Institut für Musikwissenschaft, Universität Bern

Silke Wenzel widmet sich in ihrer Dissertation einem Themengebiet, das musikhistorische Forschungen zumeist unter anderen Oberthemen behandelten. Dies dürfte besonders aus der ästhetisch-kompositorischen Wertung von Militärmusik resultieren, galt diese doch in ihrer „Reinform“ zumeist als weniger anspruchsvoll. Berechtigterweise wurde die Frage aufgeworfen, ob akustische Signale überhaupt als Musik verstanden werden können.1

Allerdings ist auch nicht davon auszugehen, dass die historische Musikwissenschaft die Zusammenhänge von Musik und Krieg ganz und gar ausgeklammert habe, wie etwa die Arbeiten von Achim Hofer, Stefan Hanheide, Kate Van Orden und anderen zeigen. In den letzten Jahren gab es unter musikwissenschaftlicher Beteiligung zudem einige interdisziplinäre Zugriffe auf Krieg und Frieden in der Vormoderne.2 Die Zusammenhänge von Musik und Militär sind auch Gegenstand des zwischen 2007 und 2009 an der Schola Cantorum Basiliensis durchgeführte Forschungsprojekts „La Grande Écurie – Erforschung und Rekonstruktion der Instrumente und ihres Repertoires am Hof Ludwigs XIV. und XV.“.3 Ein Großteil der Publikationen nimmt jedoch vor allem jüngere Zeiträume zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert in den Blick.

Umso größer sind nun die Erwartungshaltungen an Wenzels Untersuchung, die ein weites zeitliches Spektrum von fast 150 Jahren umfasst und dabei nicht nur unterschiedliche Territorien, sondern auch, gewissermaßen in einem „Rundumschlag“, verschiedene musikalische Gattungen berücksichtigt. Der Band ist in drei Hauptkapitel unterteilt: Das erste große Oberkapitel ist sozialgeschichtlich orientiert und widmet sich dem „Krieg als Zweck. Musiker und Musik in Kriegsdiensten“. Darin diskutiert die Autorin zunächst die grundsätzliche Funktion von Musik in militärischen Zusammenhängen, die Quellenlage bezüglich der musikalischen Dokumentation und sie thematisiert in einem breit angelegten Überblick den musikwissenschaftlichen Forschungstand zu Musik und Krieg allgemein und in der Frühen Neuzeit im Speziellen. Nach einem Blick auf die Musiker, entsprechende Institutionen, die Ausbildung, Administration, soziale Stellung und die spezifischen Instrumente geht Wenzel des Weiteren auf das Signalwesen ein. Dabei zeigt sie, dass militärische Musik und Geräusche auf unterschiedlichste Lebensbereiche ausgreifen, so z.B. in Form von Tänzen, Prozessionen, Beisetzungen oder zur Unterhaltung im Feld, und sozial determiniert sind.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich speziell mit der Verbindung von Krieg und Lied. Zahlreiche Lieder stehen zur Diskussion, in denen Kriege geschildert und thematisiert werden. Wenzel widmet sich dem Aufbau und der Beschaffenheit der Lieder detailliert. Besonderes Augenmerk legt die Autorin auf die Wechselwirkungen zwischen Liedern und den neuen Medien des Flugblatts bzw. der Flugschrift. Im Blickpunkt des Interesses stehen ferner Melodien und Töne, deren Rezeption und Bedeutungstransfers und -wandlungen. Ausgewählte Beispiele werden analysiert (Benzenauer-Ton, Wissebecken-Ton und Judas-Lied) und nach politischen Motiven gefragt.

Das letzte große Kapitel befasst sich mit „kriegerisch“ ambitionierten Kompositionsformen zwischen Vokal- und Instrumentalmusik, stellt Genres wie Bataille (oder Battaglia), Chanson und „L’homme armé“-Messe bzw. deren Verknüpfung, kompositorische Beschaffenheit, Aufführungskontexte, Funktionen und Bedeutungsgebungen in den Mittelpunkt. Eingehend betrachtet werden u.a. Clément Janequins und Guillaume Costeleys „Vokalbatailles“ sowie die berühmte Chanson „L’homme armé“ und deren umfangreiche Rezeption.

Wenzel eröffnet den Leser/innen in allen drei Kapiteln ein großes kompositionsgeschichtliches und gesellschaftspolitisches Panorama. Problematisch ist allerdings, dass nicht klar wird, welche grundsätzliche Fragestellung die Arbeit – zu einem „Themenfeld, das sich aus der Verbindung von Musik und Krieg ergibt,“ und daher „nahezu unerschöpflich ist“ (S. 10) – eigentlich verfolgt. Dies zeigt sich bereits daran, dass der Rahmen der Arbeit sehr weit gezogen ist, Beispiele aus englischen, deutschen, französischen oder burgundischen Kontexten werden aneinandergereiht. Die zahlreichen Zitate stören bisweilen den Lesefluss, ihnen ist teils auch die Zerfaserung einiger Kapitel geschuldet. Obwohl im Titel anders suggeriert bleiben Konzepte von Soundscapes, Sound Studies oder Topic Theorie unberücksichtigt, nur am Rand bezieht sich Wenzel auf die Zeichentheorie.4 Diskurse anderer Fächer wie etwa der Geschichtswissenschaften, die sich in den letzten Jahren speziell auditiven Phänomenen geöffnet haben, finden keinen Eingang. Namen wie Daniel Morat oder Jan Friedrich Missfelder tauchen im Literaturverzeichnis nicht auf. In der Tat wären gerade Soundkonzepte für dieses Themenfeld weiterführend gewesen, zumal sich das erste Hauptkapitel des Buches ausdrücklich mit akustischen Äußerungen befasst, deren Einordnung unter dem Begriff bzw. Verständnis von „Musik“ problematisch erscheinen. Herangehensweisen der sogenannten Topic Theorie wären zudem für die musikanalytischen Teile aufschlussreich gewesen.5 Auffällig ist, dass neuere Literatur lediglich bis 2012 verarbeitet wurde, wobei vor allem Arbeiten aus der deutschsprachigen Forschung im Zentrum stehen.

Auch die eigene Forschungsleistung bleibt unklar: Der darstellende Teil endet mit dem letzten Unterpunkt des dritten Hauptkapitels. Somit fehlt nicht nur eine Herausstellung der eigenen Forschungsleistungen und -ergebnisse, sondern auch ein Ausblick auf Fragen, die aus der Arbeit resultieren und der Forschung weitere Perspektiven liefern könnten. Hier ist der/die Leser/in gefragt: Was sind die wesentlichen Verbindungen des Militärischen zu Herrschaft und Klang, die trotz Ankündigung in den Überschriften nur angedeutet, keinesfalls aber tiefergehend reflektiert werden?

Trotz aller Kritik bietet die Untersuchung erstmals einen großen Überblick sowie zahlreiche neue Erkenntnisse, zeigt die vielfältigen militärisch-kriegerischen Inhalte vor allem in musikalisch-kompositorischer, textlicher und rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht auf, kann als gut recherchierte Materialsammlung dienlich sein. Einer größeren interdisziplinären Offenheit hätte die Untersuchung angesichts der Thematik jedoch unbedingt bedurft.

Anmerkungen:
1 Siehe dazu u.a. Mylène Pardoen, Les ‚Bruits de guerre‘ aux XVIIe et XVIIIe siècles: du signal fonctionnel à la musique, in: Bruit et musique; actes [de la journée d’étude], Lyon, 23 janvier 2008, hrsg. von Gérard Le Vot / Gérard Streletski / Giovanni di Filippo Del Campo, Lyon 2009, S. 107–126.
2 Siehe u.a.: Marie-Bernadette Dufourcet-Hakim / Josette Pontet (Hrsg.), Guerre et paix. Les enjeux de la frontière franco-espagnole: (XVIe-début XIXe siècle), Pessac 2016; Matthias Müller / Peter-Michael Hahn / Martin Eberle (Hrsg.), Zeichen und Medien des Militärischen am Fürstenhof in Europa, Berlin 2017.
3 Siehe u.a. Annemarie Firme / Ramona Hocker (Hrsg.), Von Schlachthymnen und Protestsongs. Zur Kulturgeschichte des Verhältnisses von Musik und Krieg, Bielefeld 2006; Étienne Jardin (Hrsg.), Music and war in Europe from the French Revolution to WWI, Turnhout 2016; Achim Hofer (Hrsg.), Oper und Militärmusik im ‚langen‘ 19. Jahrhundert. Sujets, Beziehungen, Einflüsse, Sinzig u.a. 2020; bzw. die erste Ausgabe der Tonkunst von 2019, die sich dem Thema Musik und Frieden in der Frühen Neuzeit widmet.
4 Es ist zwar die Rede von akustischen Zeichen, doch finden sich in der Untersuchung keine ausführlicheren Ausführungen zur Zeichentheorie. Die Autorin verweist u.a. auf einen eigenen Artikel (siehe Anm. 296 auf S. 143) sowie Darstellungen von Vladimir Karbusicky und Umberto Eco.
5 Siehe dazu: Raymond Monelle, The musical topic. Hunt, military and pastoral, Bloomington 2006; bzw. Danuta Mirka (Hrsg.), The Oxford Handbook of Topic Theory, Oxford 2014.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension